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Letzte Aktualisierung: 14.12.2012 14:15

 

 


BOLIVIEN - "FEST DER SEELEN "

 
 
 
Bolivien: "Fest der Seelen"
 

Wenn Sie zufällig Ende Oktober in unsere Siedlung Kami hoch oben in den bolivianischen Anden kommen, mögen Sie sich fragen, welches Fest die Bergarbeiterfamilien gerade feiern mögen. Es beginnt mit einem Besuch, der an verschiedene Türen klopft, um Familienangehörige und Freunde einzuladen, sich in den kommenden zwei Wochen aktiv an den Festlichkeiten bei sich zu Hause zu beteiligen. Diese Einladung wird begleitet von Wein und einem kleinen Teller mit etwas Wurst, Salat, Käse und Oliven, eine Art Vorspeise. Es ist nicht das einzige Haus im Ort, sondern verschiedene Familien laden ihre Freunde und Verwandten zum Fest ein. Die restliche Gemeinde organisiert sich in Gruppen von Gleichaltrigen, um gemeinsam bekannte Lieder und Tänze einzuüben oder auch ein paar neue zu komponieren. Damit wollen sie an den Festtagen so viele Familien wie möglich aufsuchen, bei denen gefeiert wird. 

Doch zunächst helfen noch die Freunde und Verwandten bei den Vorbereitungen. Die wichtigste: das Backen der T'anta Wawas, der „Brotkinder“, aus Mehlteig gestaltete Figuren in Form von Menschen, Tieren, Sternen, der Sonne, dem Mond... Am Ende wird auf einem Tisch ein Altar aufgebaut, auf dem einige der T'anta Wawas Platz finden; darüber hinaus Blumen, Palmwedel, Gerichte, Getränke, Obst und allerlei Zuckerwerk. Jede Familie schmückt ihren Altar in ihrer eigenen Weise. Die Männer müssen noch die Wallunk'as aufbauen. Das sind an hohen, tief in den Boden gerammten Baumstämmen zum Schaukeln befestigte Seile. Derweil kneten manche erwachsene Frauen noch den Teig für besondere T'anta Wawas. Diese formen sie zu einer weiblichen Gestalt, die die Mutter Erde darzustellen scheint. Diese Figur werden sie einer anderen Frau anbieten, mit der sie in Zukunft eine Art Gevatternschaft eingehen wollen, die ähnlich respektiert wird wie Familienbande oder die Beziehung zu den Paten. Diese Beziehung wird später an der Wallunk'a besiegelt. Am 31. Oktober um die Mittagszeit ist es endlich so weit. Das Fest, das nicht nur in den Bergwerkszentren, sondern überall in Bolivien gefeiert wird, kann beginnen. Alle versammeln sich in den Häusern, um die Hauptpersonen des Festes in Empfang zu nehmen: Es sind die Seelen... schließlich ist Todos Santos.

Das Allerheiligenfest ist in den andinen Kulturen ein Ritual der Begegnung zwischen den Wesen, die wir noch immer auf dieser Seite des Seins leben, die Erde, Kay Pacha, genannt wird, und jenen Verwandten, die sich auf der Reise durch den Leib der Muttererde, dem Ukju Pacha, befinden. Alle, die in diesem Leben ein geliebtes Wesen verloren haben, bereiten sich mit Verwandten, Freunden und Nachbarn darauf vor, unsere verlorenen Seelen auf die bestmögliche Weise zu empfangen. Deshalb ist der Tag der Toten – ein Fest und deshalb wird er seit langer Zeit als solches auch gefeiert. In der vorkolonialen Zeit wurden zum Fest der Seelen die Mumien (Chullpas) aus ihrem heiligen Grab nach Hause getragen, um ihnen Opfergaben, etwas zu essen und zu trinken zu geben. Eine Woche lang wurde mit ihnen gefeiert, um sie dann bis zum nächsten Jahr in ihr Grab zurück zu bringen. 

Heute nehmen die T'anta Wawas den Platz der Chullpas ein. Zwar wurden musikalische Elemente und religiöse Symbole aus dem Christentum in die Rituale einbezogen, doch der ursprüngliche Kern blieb erhalten, die aus dem Tod geborene Fruchtbarkeit, worauf wir später noch eingehen werden. Am ersten Festtag werden die Seelen derer erwartet, die als Kinder gestorben sind. Die Jungen und Mädchen des Dorfes pilgern von Haus zu Haus und bieten im Chor ihre Gebete und Gesänge dar. Jedes Kind bekommt dafür ein T'anta Wawa, manchmal auch ein Bonbon oder etwas zu trinken. Am Ende des Tages tragen sie einen Sack nach Hause, der vollgefüllt ist mit Brot und Süßem.

Am zweiten Tag kommen die als Erwachsene Verstorbenen, die machu almas. Und diesmal gehen auch die Erwachsenen von Haus zu Haus. Die aber singen nicht, sondern beten nur am Altar und bekommen dafür T'anta Wawas, Zuckerbrot und alkoholische Getränke. Wer um die Mittagszeit kommt, erhält ein richtiges Essen, zubereitet nach dem Geschmack des Verstorbenen. Am späten Nachmittag wird das Fest dann privater, es wird wieder gegessen, getrunken und die ganze Nacht gespielt. Am dritten Tag werden die Seelen verabschiedet. Wieder trifft man sich zur Mittagszeit, nur diesmal auf dem Friedhof. Erneut baut jede Familie einen Altar auf dem Grab des Verstorbenen auf und erwartet die Gruppen derer, die vorbeikommen, um wieder für den Verstorbenen der Familie zu beten und zu singen. Am späten Nachmittag wird eine Person, die den Verstorbenen gekannt haben muss, gemeinsam mit der Familie den Verstorbenen in einem letzten Ritual verabschiedet. Dafür bekommt er all das, was auf dem Altar noch übrig ist.

Damit endet der erste Teil des Festes. Mit dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, zieht sich die Gemeinde langsam vom Friedhof zurück. Hinter all dem verbirgt sich ein Opferritual. Man opfert dem Tod, um ihm den Hauch des Lebens zu geben, mit dem neues Leben geschaffen werden, Leben wiedererschaffen werden kann. Auch deshalb verwandelt sich das T'anta Wawa von der Gestalt des Todes zur Darstellung von Mutter Erde. Und das heißt: des Überflusses, der Fruchtbarkeit, des Lebens. Und damit beginnt der zweite Teil des Festes, der sich vor allem an der Wallunka, der großen Schaukel, abspielt. 

Die ein oder andere Frau wird mit ihrem speziellen T'anta Wawa nun die von ihr ausgewählte Gevatterin besuchen, um die Freundschaft zu besiegeln. Einige hängen hoch oben und schwer erreichbar kleine Körbe vor der Schaukel auf, die mit Eiern und Süßigkeiten gefüllt und außen mit Geldscheinen, Blumen und Papierschlangen geschmückt sind. Alle alten und neuen Gevatterinnnen werden nun eingeladen, auf die Schaukel zu steigen und sich hochzuschaukeln, um einen Korb herunter zu fischen. Währenddessen machen sich die Frauen in kurzen Versen über die Männer lustig. Zwei der Männer sind dazu abgestellt, die Frauen mit kleineren Seilen, die an das große Seil geknüpft sind, in Bewegung und in die Höhe zu bringen. Die anderen Männer antworten in improvisierten Versen auf die Beleidigungen. Dabei geht es recht derbe zu, dennoch wird der Augenblick auf poetische Weise eingefangen. 

K'ellu t'ika loma ay palomitay 
Puka t'ika loma por vos viditay,
Kasaray munasqa ay palomitay
Burrukanka aycha por vos viditay.

Gelbe Blüte vom Hügel, ei, mein kleines Täubchen
Bunte Blume vom Hügel, für dich, mein kleines Leben
Haut wie gegerbtes Eselsfell, ei, mein kleines Täubchen
Ausgerechnet der will mich heiraten, für dich, mein kleines Leben.

Sauce wallunk'ita, ay palomitay
Molle wallunk'ita por vos viditay
Kasaray munani, ay palomitay
Wawan suyaj jina por vos viditay.
Kleine Schaukel aus Weidenholz, ei, mein kleines Täubchen
Kleine Schaukel aus Molleholz, für dich, mein kleines Leben
Ich will nur heiraten, um zu warten, ei, mein kleines Täubchen
Während ihre Tochter heranwächst, für dich, mein kleines Leben.

All dies spielt sich so oder ähnlich beim Fest der Seelen in den Dörfern der Tälerregion oder der Hochebene Boliviens ab. Und tatsächlich ist die Art, wie wir Bergarbeiter dieses Fest feiern, im Kern eine Wiederholung dessen, was wir aus den ländlichen Gemeinden mitgebracht haben, als wir in die Bergbaugebiete gezogen sind. Und wir haben diese Form des Feierns bewahrt, weil wir die Nabelschnur zu den ländlichen Gemeinden, aus denen wir stammen, nie ganz getrennt haben. Sicher, die meisten von uns Bergarbeiterfamilien haben versucht, unseren indigenen Ursprung zu leugnen. Und beim Handel und Tausch von Produkten haben wir Beziehungen etabliert, die unsere Brüder benachteiligen. 

Und wen verwundert es, dass wir nach Jahrhunderten der Ausbeutung der indigenen Bevölkerung den Fortschritt nur mit der ökonomischen Messlatte bestimmen. Und niemand wird ihnen das legitime Recht verweigern, sich zu wünschen, dass ihre Kinder nicht so unter Diskriminierung zu leiden haben, wie sie selbst gelitten haben, nur weil sie Quechua oder Aymara sind. Außerdem bedeutete, zwischen 1950 und 1975 Bergarbeiter zu sein nicht nur, in der sozialen Rangordnung eine Stufe über den „Indios“ zu stehen, sondern man stand auf Tuchfühlung mit der Moderne. Die ersten elektrischen Küchengeräte, Fleisch in Dosen, das Fernsehen und sogar das Kino gab es früher in den Bergbaugebieten als in mancher bolivianischen Stadt. Doch letztendlich haben die fehlende Sicherheit in den Bergwerken und die um sich greifenden Krankheiten wie Staublunge dazu geführt, dass tief im Innern des Bergwerks und der Seele der Bergleute ununterbrochen der Dialog zwischen Leben und Tod geführt wird. Deshalb ist der Bergmann auf den Pakt mit den Wesen angewiesen, die Mutter Erde bewohnen, und ganz besonders mit den bösen Wesen wie dem Teufel, der sich hinter der Bezeichnung des Tio, des Onkels, verbirgt. Diese Wesen sollen den Bergmann schützen, und dafür bringt er sein Opfer. Doch trotz aller Opfer, trotz dieses Paktes, ist der Friedhof in Kami immer überbevölkert. Und deshalb strömen die Massen an Allerheiligen zu diesem Ort. Wahrscheinlich ist es für die Bergarbeiterfamilien das wichtigste Fest des Jahres.

Und deshalb finden auch die Familien, die nach der Krise des Bergbausektors in die Städte oder andere Länder abgewandert sind, immer einen Weg, unsere Traditionen zu feiern und neu zu beleben. Egal, wo wir sind, in Cochabamba, Santa Cruz, Spanien, Italien oder England. Bei meiner Feier in diesem Jahr in Osnabrück begleiten mich in Gedanken auch die am 11. September im bolivianischen Pando ermordeten indianischen Kleinbauern, die am 27. September im kolumbianischen Medellín zusammen mit ihren Kindern getötete Friedensaktivistin Olga Marina Vergara und die in den USA geborene Menschenrechtlerin Marcella Sali Grace, die in Oaxaca ermordet wurde.

 
Thomas Wunram
Das Fest der Toten
Fotos: Thomas Wunram
Das Allerheiligenfest auf dem größten Friedhof Limas: Traditionelle Bräuche der Inka verbinden sich mit dem christlichen Festinhalt zu einem frohen Fest der Lebenden mit den Verstorbenen.
Um zwölf Uhr mittags öffnet sich die Tür zur anderen Welt. Dann kommen die Seelen der Verstorbenen und feiern ein Fest mit den Lebenden.
Allerheiligen ein Frühlingsfest – kaum vorstellbar für Christen der nördlichen Hemisphäre. In den Andenregionen Südamerikas hingegen warten die Menschen im Oktober mit Sehnsucht auf die wiederkehrende Sonne. Allerheiligen ist dort Frühlingsbeginn...
Früh morgens schon setzt in Lima eine mittelschwere Völkerwanderung ein. Die schrottreifen Kleinbusse des öffentlichen Nahverkehrs sind heillos überfüllt, Taxis – sonst eine aufdringlich hupende Plage – sind kaum zu bekommen. Zehntausende zieht es auf die großen Friedhöfe in die Geröllhügel am Stadtrand der peruanischen Hauptstadt.
Mittags um zwölf müssen sie da sein. Denn um zwölf beginnt das große Fest, Todos Santos, das Fest der Toten. Damit das Fest gelingt, bringen die Lebenden allerhand mit: Schnittblumen, Farbtöpfe, Wasser in Drei-Liter-Colaflaschen, Cuzqueña-Bier und hochprozentigen Trago, Körbe voller leckerer Speisen und die traditionellen Musikinstrumente. Sie müssen pünktlich sein, denn um zwölf öffnet sich das Tor zur anderen Welt, und die Seelen der Toten kommen zurück – für einen Tag. Respektlos, wer sie warten lässt.
José will sie nicht warten lassen. Er ist 45 und ernährt seine Familie mit dem mageren Gehalt eines Musiklehrers. Auf dem Friedhof Esperanza will er das Grab des Vaters besuchen, es seinem Ältesten zeigen, der 15 ist und auch José heißt. Sie zwängen sich in einen Kleinbus, und als der Verkehr zusammenbricht, reihen sie sich ein in die endlos scheinende Karawane, die durch die ärmliche Vorstadt zu einem Loch im rostigen Friedhofszaun zieht. Dann ein überwältigender Anblick: so weit das Auge reicht – Gräber. Und zwischen ihnen heiteres, lebendiges Treiben bunt gekleideter Menschen jeden Alters. Ein Bild, das den Hauch von trist-grauer Einsamkeit wegbläst, den solch ein Ort erwarten lässt.
Rührende Szenen spielen sich ab. Geschwister, die sich lang nicht gesehen haben, liegen einander in den Armen. Männer klopfen sich freundschaftlich auf die Schultern und haben einander ebenso viel zu erzählen wie ihre Frauen. Das Grab wird von der fingerdicken Staubschicht befreit, die sich während der vergangenen zwölf Monate darüber gelegt hat. Sie gießen Wasser darüber oder Chicha, das traditionelle Maisbier, denn die Toten sollen nicht durstig bleiben in diesem Land ohne Regen. Geschäftstüchtige Maler kommen mit Pinsel und Farbtopf. Für ein paar Soles lassen sie die Holzkreuze in glänzendem Weiß wie neu erstrahlen. Wer mehr ausgeben will, lässt noch die zusammengesuchten Steine der Grabeinfassung in die dickflüssige Ölfarbe tauchen.
Dann beginnt der gemütliche Teil: Der Picknickkorb wird ausgepackt, und das Grab verwandelt sich in einen liebevoll gedeckten Tisch mit Fleisch vom Spanferkel, mit gefüllten Maistaschen oder gegrilltem Meerschweinchen. Dazu gibt es Cuzqueña und für die Kinder die knallgelbe Inka-Cola. Die Lebenden holen Fotos hervor, erzählen alte Geschichten und tauschen Erinnerungen an die Verstorbenen aus. In ihren Geschichten werden die Toten lebendig. War der Vater Raucher, dann rauchen die Söhne mit ihm am Grab. Trank er, so wird eine Flasche Pisco geöffnet oder noch mehr
Chicha ausgeschenkt. Und liebte er die Musik, dann winken sie eine Combo herbei, und über den Friedhof klingen die fröhlichen Melodien der Selva oder die melancholischen Weisen des Hochlands. Mancher hört still zu, versunken in Erinnerungen, andere singen mit, klatschen, tanzen und lachen.
Auf der Suche nach Arbeit und Zukunft haben die Eltern Heimat und Kultur zurückgelassen. In Lima, in der Fremde, haben sie ihr Grab gefunden. Doch an Todos Santos wird dieses Grab zur Heimat auch für die Kinder und Enkel. Für 24 Stunden lebt hier die Kultur der alten Heimat in den Liedern und Gebräuchen wieder auf. Und wer heute stirbt, so erzählen die Alten, dessen Seele braucht nicht zu warten. Sie kann hinübergehen in die andere Welt. Denn heute und nur heute, diesen einen Tag im Jahr, ist das Tor zur anderen Welt offen.
José sucht noch immer das Grab seines Vaters. Es ist das Grab eines Armen und kostet 200 Soles, etwa 50 Euro. José sucht vergebens. Das Lattenkreuz mag umgefallen sein, die Steine fassen jetzt womöglich andere Gräber ein. Doch die Seele des Vaters ist da, davon ist der Sohn überzeugt. Er gibt auf und trinkt mit dem Enkel an einem der improvisierten Kioske auf das Leben und das Wohl des Großvaters.
Abends wird die Stimmung ausgelassener, bierseliger. Unzählige Kerzen flackern lebendig über die Hügel von Esperanza, so als wollten die Toten zum Tanz laden. Das Fest der Toten führt die Lebenden zusammen und lässt sie Kraft finden in der Erinnerung.
Die Wurzeln des Brauches reichen zurück in vorspanische Zeiten. Damals mumifizierten die Inkas ihre Verstorbenen und verehrten sie in Fruchtbarkeitskulten. An diesem einen Tag zu Frühjahrsbeginn – so der alte Glaube – kehren die Seelen zurück in ihre trockenen Körper. Die Zeit der winterlich trockenen Todesstarre ist vorbei, und Mutter Erde, die Pacha Mama, erwacht zu neuem Leben. Deshalb vielleicht heißen die Toten in der Sprache der Inka „mallqui“, was Setzling oder Pflanze bedeutet. Die Seelen kommen mit dem Hauch des Windes von den Anden oder mit den Insekten, den Boten des erwachenden Frühlings. Speisen und Chicha werden ihnen dargebracht in einem großen Fest.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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